Italien am Boden Gründe für das frühe Aus des Titelverteidigers
Die italienische Nationalmannschaft ist als Titelverteidiger schon im EM-Achtelfinale ausgeschieden. Schlimmer noch: Das Team überzeugte beim Turnier nie wirklich. Woran lag das?
Nationaltrainer Luciano Spalletti hat die Verantwortung für das frühe Ausscheiden bei der Europameisterschaft übernommen. Die italienische Presse geißelte das eigene Team nach der 0:2 (0:1)-Niederlage.
"Miserabel" nannte die "Corriere della Sera" die Leistung, "Ohne Beine und ohne Seele scheidet die Nationalmannschaft wehmütig aus der EM aus", schrieb die "Corriere dello Sport". Wie konnte der Europameister nach dem Triumph von 2021 so abstürzen?
Verletzungen, Sperren und ein Wechsel in die Wüste
Es war nur ein kleiner Teil der Erklärungen von Nationaltrainer Spalletti nach dem Ausscheiden, aber kein unwichtiger. Der "Squadra Azzurra" fielen in den Monaten vor dem Turnier einige wichtige Spieler aus: Abwehrtalent Giorgio Scalvini verletzte sich unmittelbar vor der EM, sein potenzieller Ersatz, der erfahrene Francesco Acerbi fehlte ebenfalls verletzt. Der offensive Mittelfeldspieler Nicolò Zaniolo brach sich bereits im Mai den Mittelfuß.
Dazu hatte Italien einen Glücksspiel-Skandal zu verkraften, der auch das Nationalteam betraf. Stamm-Sechser Sandro Tonali verpasste die EM wegen einer Sperre. Er hatte sich an Sportwetten beteiligt. Gleiches galt für Toptalent Nicolò Fagioli. Der war bereits im Oktober letzten Jahres für sieben Monate gesperrt worden, kehrte also erst kurz vor der EM auf den Platz zurück. Er fuhr quasi ohne Matchpraxis mit nach Deutschland.
Ein weiterer Mittelfeldspieler, der noch einige Jahre als Eckpfeiler der italienischen Nationalmannschaft eingeplant war, nahm sich mit einer Karriereentscheidung aus der Verlosung. Marco Verratti wechselte im vergangenen Sommer nach Katar. Er spielt seitdem keine Rolle mehr im Nationalteam.
Unglückliche Kaderzusammenstellung Spallettis
Trotz der Probleme im zentralen Mittelfeld ignorierte Spalletti mit Manuel Locatelli einen, der immerhin Stammspieler bei Juventus Turin ist. Im defensiven Mittelfeld spielte stattdessen doch wieder Jorginho. Den hatte Spalletti eigentlich im vergangenen Jahr aussortiert.
Es brauche auch ein bisschen Erfahrung auf dem Platz, sagte Spalletti nach dem Ausscheiden zu seiner Kaderzusammenstellung. Vielleicht meinte er damit Jorginho. So verständlich das grundsätzlich ist: Andere Nationen machten vor, dass Spieler aus Ligen mit minderer Qualität wie Saudi-Arabien oder eben Katar trotzdem noch wertvoll fürs Nationalteam sein können. Die Franzosen lieferten mit N’Golo Kanté ein Positivbeispiel dafür.
In der Offensive verbannte Spalletti den langjährigen Stammstürmer Ciro Immobile zugunsten vermeintlich spielstärkerer Alternativen. Das Ergebnis: Kaum Abschlüsse, kein Stürmertor.
Luciano Spalletti hatte nicht genug Zeit für seine Idee
Das sagt zumindest Spalletti selbst. Vor neun Monaten hatte er den Job übernommen. Sein Argument: Andere Trainer bei dieser EM hatten mehr Zeit. Das stimmt zwar, es gibt aber auch gute Beispiele, dass man die Zeit besser hätte nutzen können. Julian Nagelsmann beispielsweise hat das deutsche Team zu einem ähnlichen Zeitpunkt übernommen und nach einigen Experimenten schnell einen pragmatischen Weg gefunden.
Spalletti aber hat sich wohl für einen zu ambitionierten Weg in der Kürze der Zeit entschieden. Er wollte Italien fußballerisch weiter entwickeln. Der Spielaufbau funktionierte aber zu selten. Nur gegen Albanien war der Plan des Trainers phasenweise zu sehen. Wie die folgenden Spiele zeigen, lag das eher an der Spielweise Albaniens als an der italienischen Spielstärke.
"Wenn wir gezwungen werden, unser Spiel mit schnellem Tempo zu spielen, kriegen wir Probleme, unsere Stärken auszuspielen", sagte Spalletti nach dem Spiel gegen die Schweiz. Es habe vielversprechende Ballgewinne gegeben, dann sei der Ball aber zu schnell wieder verloren worden, so der Trainer.
Statistiken aus der Fußballhölle
Italien gab in den vier Partien nur 44 Torschüsse ab. Das waren fast halb so viele, wie beim Turniersieg vor drei Jahren nach dem Achtelfinale (damals 83). Im Gegenzug ließen die Italiener 50 Torschüsse des Gegners zu - mehr also, als sie selbst zustande brachten. Für eine Topnation sind solche Werte eigentlich nicht akzeptabel, zeigen sie doch, dass nicht Pech der Grund fürs Ausscheiden war.
Auf der Suche nach einem anderen Spiel mit dem Ball, verlor Italien zudem seine Identität der Vergangenheit. Die Abwehr wackelte. Nur 49,4 Prozent der Zweikämpfe gewannen die Italiener bei dieser EM. Zwölf Teams waren hier besser. Im Achtelfinale gegen die Schweiz lag die Elf von Spalletti sogar nur bei 47,4 Prozent. Innenverteidiger Bastoni gewann weniger als 15 Prozent.
Die Topteams der Serie A setzen auf ausländische Fachkräfte
Die Serie A ist die stärkste Liga der Welt, zumindest nach dem UEFA-Saisonranking. Die italienischen Teams spielten in den europäischen Wettbewerben lange mit, Florenz erreichte das Conference League Finale, Atalanta Bergamo gewann die Europa League. In der Champions League stand Inter 2023 im Finale.
Das Problem: In fast allen Topteams spielen Ausländer die wichtigen Schlüsselrollen. Beim AC Mailand, in diesem Jahr Ligazweiter, war Kapitän Calabria der einzige Italiener unter den Stammspielern (er fehlte im EM-Kader). Bei Juventus waren es derer nur fünf (von denen mit Manuel Locatelli und Fabio Miretti zwei im EM-Kader fehlten) und auch das Gerüst von Europa-League-Sieger Atalanta Bergamo fußte nicht in erster Linie auf Italienern (mit Gianluca Scamacca war nur einer im Kader).
Selbst der Meister Inter Mailand, der mit Barella, Bastoni, Dimarco, Darmian und Frattesi das Gerüst der italienischen EM-Kaders stellte, wäre ohne seine ausländischen Stars deutlich geschwächt. Das führt zur paradoxen Situation, dass zwar fast der ganze Kader Italiens in der Serie A spielt, die Serie A eine der stärksten Ligen der Welt ist und trotzdem die Stärke der Liga nicht zu einem starken Nationalteam führt.