Nach vier Niederlagen in Serie Der 1. FC Union Berlin und die Frage nach der Krise
Zum ersten Mal seit 2020 hat der 1. FC Union vier Pflichtspiele in Serie verloren. Verletzte Leistungsträger, Systemumstellungen und die Neuzugänge brauchen Zeit. Die Frage ist: Reicht das schon für eine kleine Krise? Von Jakob Lobach
Urs Fischer dürfte rund um den Wochenwechsel ein wenig gebraucht haben, um in seinen üblichen, von ruhiger Entspanntheit geprägten Gemütszustand zurückzukommen. "Ich bin doch etwas angefressen im Moment", hatte der Trainer von Union Berlin am späten Samstagnachmittag gesagt. Gemessen an der diplomatischen Nüchternheit, mit der Fischer üblicherweise seine Interviews gibt, war es ein kleiner Gefühlsausbruch. Die 0:2-Niederlage seiner Mannschaft gegen die TSG Hoffenheim hatte den Schweizer Coach spürbar frustriert.
Die Frage nach der Krise
Frustration – ein Gefühl, das im Sport üblicherweise an der Tagesordnung ist. In der gänzlich unüblichen Erfolgsgeschichte des 1. FC Union Berlin aber hat es sich in jüngeren Jahren rar gemacht. Statt vielen Niederlagen und Abstiegssorgen, prägten Siege und Europapokaleinzüge Unions Saisons seit dem Bundesligaaufstieg 2019. Eine Entwicklung, die vorläufig im lange nicht für mögliche gehaltenen Abenteuer Champions League gipfelte. Dass die Köpenicker gegen Hoffenheim jüngst zum ersten Mal seit dem Frühjahr 2020 ein viertes Pflichtspiel in Folge verloren, passt da nicht so recht ins gewohnte Bild. Was also läuft derzeit anders bei Union als zuletzt? Und markieren vier Niederlagen in Serie bereits eine kleine Krise? Oder doch nur eine komplizierte Passage im vielleicht aufregendsten Kapitel der Union-Geschichte?
Die gute Nachricht für die Union-Fans ist, Urs Fischer war nach der Niederlage vom Wochenende zwar "angefressen", aber wirkte keinesfalls ratlos. Bereits in der Halbzeitpause hatte er seinen Spielern laut und nachdrücklich ihre Fehler vorgehalten. Die Niederlage gegen Hoffenheim, bei der die Mannschaft eine sehr schlechte und eine sehr solide Halbzeit gespielt hatte, war also erklärbar. So wie auch die schwierige Phase, in welche sie fiel, erklärbar ist.
Fehlende Leistungsträger als Teil des Problems
Den Anfang machen die Gegner der vergangenen Wochen: Niederlagen gegen RB Leipzig und Real Madrid sind natürlich keine Schande, und auch gegen gut-aufgelegte Wolfsburger und Hoffenheimer kann eine Mannschaft wie der 1. FC Union mal verlieren. Hinzukommt, dass den Berlinern mit Rani Khedira und Robin Knoche aktuell zwei enorm wichtige Stammspieler verletzt fehlen. "Khedira und Knoche haben über einen langen Zeitraum alle defensiven Mechanismen gesteuert, geleitet und nachjustiert", sagte Unions Ex-Spieler und -Sportdirektor Christian Beeck am Montag im "rbb24 Inforadio"-Podcast Hauptstadtderby.
Nahezu fehlerfreie Souveränität, die detaillierte und mühsam erspielte Abstimmung mit den Mitspielern, die vermittelte Sicherheit - was Knoche und Khedira Unions Spiel nahezu immer geben, ließen ihre neuverpflichteten Stellvertreter Leonardo Bonucci, Lucas Tousart und Alex Kral bislang zumindest teilweise vermissen.
Die verletzten Robin Knoche (li.) und Rani Khedira (re.) mit Janik Haberer | Bild: IMAGO/Matthias Koch
Allerdings sagte nicht nur Urs Fischer am Wochenende über die Niederlagenserie seiner Mannschaft: "Das wäre mir jetzt zu einfach, das an den zwei Spielern aufzuhängen." Nicht zuletzt, weil Union in den vergangenen Wochen auch offensiv ungewohnt ungefährlich war. In den vergangenen Spielzeiten machten die Köpenicker aus nahezu nichts regelmäßig sehr viel. Mit wichtigen Toren in wichtigen Momenten, teils aus schwierigen Situationen heraus, gewann Union regelmäßig auch Spiele, in denen sie zwar die effizientere, aber nicht unbedingt die bessere Mannschaft war.
Insbesondere vor anderthalb Wochen gegen Wolfsburg, aber auch in der zweiten Halbzeit gegen Hoffenheim war nun das Gegenteil der Fall: Union war die bessere Mannschaft, hatte in nahezu allen wichtigen Statistiken die Nase vorn, erarbeitete sich Chancen. Nur genutzt wurden diese zu selten. Insgesamt entstand ein eindeutiger Eindruck: Die Mannschaft von Trainer Urs Fischer machte das Spiel, statt dies dem Gegner zu überlassen.
Offensive Anpassungen
In den vergangenen Saisons lag ihr Hauptaugenmerk noch auf defensiver Kontrolle, gefolgt von einem darauf aufbauenden und von viel Tempo geprägtem Umschaltspiel. In dieser Saison versucht Urs Fischer seine Mannschaft nun spielerisch weiterzuentwickeln. Es ist ein Weg, der von seinem Kader diktiert wird. Offensiv hochveranlagte Spieler wie David Datro Fofana oder Brenden Aaronson haben eine neue individuelle und kreative Qualität, die in Unions Spielstil der vergangenen Saison nicht zur Geltung kommen würde. Dass es mehr brauchen wird als die oft erfolgreicheren überfallartige Konter und Flanken von den Flügeln, um Spieler wie Aaronson und Fofana bestmöglich einzusetzen, weiß auch Urs Fischer. Nicht umsonst steigen bei Union aktuell die Passquoten und die Frequenz flacher statt hoher Bälle im letzten Drittel.
Fakt ist aber auch, dass taktische Anpassungen genauso Zeit brauchen, wie die Integration spät verpflichteter Spieler wie Leonardo Bonucci, Robin Gosens oder Kevin Volland. Zeit, die in einem von einer Dreifachbelastung geprägten Alltag knapp bemessen ist. Hinzu kommen die nun vier Niederlagen in Serie, die laut Christian Beeck den Spielern im Hinterkopf herumschweben dürften. "Leicht ist die Situation natürlich nicht", sagte Beeck im Podcast Hauptstadtderby. Als Krise wollte er Unions aktuelle Situation aber nicht bezeichnen. "Das ist eine normale Entwicklung, wenn du erstmals Champions League spielst", sagte Beeck und verwies auf eine steigende Belastung, eine noch größere Aufmerksamkeit und noch bedeutungsschwerere Spiele.
Schlüsselspiel gegen Heidenheim
Auch beim 1. FC Union selbst wollten alle befragten Akteure nach dem Spiel gegen Hoffenheim von einer Krise nichts wissen. Stattdessen verwies man nicht zuletzt auf das offiziell ausgegebene Ziel, den Klassenerhalt. Klar ist aber: Union Berlin hat spätestens in dieser Saison eine Mannschaft, die sich mit diesem nicht zufriedengeben dürfte.
Wäre Union als Verein und als Mannschaft noch auf dem Level des Aufstiegs im Sommer 2019, wären vier Niederlagen in Serie kein Anlass zu großer Sorge. Sie wäre wohl sogar erwartbar. Allerdings ist Union eben nicht mehr auf dem Level einer Aufstiegsmannschaft. Die Berliner spielen in der Champions League, haben mittlerweile den sechstwertvollsten Kader der Bundesliga, dazu einen der besten Trainer der Liga. In anderen Worten: Zumindest Unions Spieler dürften inoffiziell eher eine erneute Qualifikation für Europa zum Ziel haben.
Ein erster Schritt in diese Richtung wäre ein Sieg am kommenden Sonnabend in Heidenheim. Ein solcher würde die Frage um eine mögliche Krise in Köpenick wohl erst einmal wieder verstummen lassen. Eine fünfte Niederlage in Serie, noch dazu bei einem Aufsteiger, könnte die Bezeichnung hingegen durchaus rechtfertigen.
Sendung: rbb24, 25.09.2023, 21:45 Uhr