Ehrentag "DDR-Sportverräter" Claus Tuchscherer wird 70
Claus Tuchscherer vom einstigen Sportclub Dynamo Klingenthal in Sachsen blickt auf ein spannendes und erfülltes Leben zurück. Er war einer der besten Nordischen Kombinierer der DDR. Bei den Olympischen Winterspielen 1976 setzte er sich nach Österreich ab und galt fortan als "Sportverräter". Dann löste sich zwei Jahre später bei der Ski-WM in Lahti seine Skibindung. Tuchscherer fragt sich bis heute: Hatte die Stasi damals ihre Hände im Spiel ? Am 14. Januar 2025 begeht der vitale Senior seinen 70. Geburtstag.
Es gibt zahlreiche unvergessliche Fernseh-Momente im Sport, wo die Zuschauer den Atem angehalten haben. Auch die folgenden Szenen sowie ein eindrückliches Foto gingen um die Welt: Ein Skispringer im knallroten Anzug spreizt seine Arme wie ein Adler, er kämpft hochkonzentriert und mit aller Macht um die Balance in der Luft, im Hintergrund der blaue Himmel. Er trägt nur einen Ski, der andere schwebt zwischen seinen Beinen, es sieht aus wie ein Zirkusstück.
Doch es war lebensgefährlich, was Claus Tuchscherer (Jahrgang 1955) auf der Normalschanze bei der Nordischen Ski-Weltmeisterschaft im Februar 1978 im finnischen Lahti passierte. Beim Absprung hatte sich eine Bindung gelöst. Knapp 60 Meter weit kam der Medaillenanwärter, indem er in der Luft intuitiv sein Körpergewicht in Sekundenbruchteilen auf den noch vorhandenen linken Sprungski verlagerte, eine wahrlich große akrobatische Leistung. Nach der Landung folgte zwangsläufig ein Sturz, ein Platz auf dem Treppchen war dahin. Dies war richtig bitter, denn er gehörte in Lahti zu den Favoriten, war super in Form. Mit einer Wirbelsäulenverkrümmung und einigen blauen Flecken kam er davon.
Claus Tuchscherer feiert runden Geburtstag
Was heute vor allem die jüngeren Generationen beim Anblick des spektakulären Skifluges nicht mehr wissen: Die Sache hatte auch einen ernsten politischen Hintergrund: Tuchscherer stammte aus Schönheide im Erzgebirge, wo er beim DDR-Sportclub Dynamo Klingenthal trainierte, er war einer der besten Kombinierer. Bei den Olympischen Spielen in Innsbruck 1976, wo er Fünfter wurde, setzte sich der damals 21-jährige nach Österreich ab. Fortan galt er im Osten als "Sportverräter". Dass er in Lahti einen Ski verlor, hält Tuchscherer nicht für Zufall oder einen Unfall. Bis heute hält er es für möglich, dass damals jemand aus seiner alten Heimat die Bindung an seinem rechten Ski manipulierte. Es war die Zeit des Kalten Krieges: Die Flucht eines Spitzensportlers war für die DDR-Oberen immer eine große Niederlage. Eine beeindruckende Doku "Flucht und Verrat - Die Stasi-Akte Tuchscherer" des österreichischen Fernsehens ORF Wien aus dem Jahr 2019, hat dieses spannende Stück Sportgeschichte ebenso intensiv beleuchtet.
Von der Stasi massiv überwacht
Der Fall Tuchscherer lief so: Monate vor den Spielen verliebte er sich in einem Trainingslager auf dem Dachsteingletscher in die Österreicherin Anna. Mit dem Taxi, das sie organisierte, ging es im Februar 1976 heimlich vom DDR-Olympia-Quartier in Mösern nach Bischofshofen und von dort im Zug in die Steiermark, Annas Heimat. Danach wurde Tuchscherer massiv von der Stasi überwacht. Die Akten zeigen: Auch durch den Olympiasieger Ulrich Wehling vom SC Traktor Oberwiesenthal. Tuchscherer selbst hatte Wehlings denunzierende Aussagen in seiner Stasi-Überwachungs-Akte gefunden. Wehling selbst indes streitet alles ab.
Auch andere frühere Sportkameraden waren involviert. Stasi-Offiziere vermerkten, dass "durch Hinweise von Inoffiziellen Mitarbeitern gezielte Informationen über das Verhalten und Auftreten Tuchscherers bei Auslandseinsätzen erarbeitet werden konnten". Dass zu den Informanten auch der 1978er-Skisprung-Weltmeister Matthias Buse (Stasi-Deckname IM "Georg") von Dynamo Klingenthal gehörte, erfuhr Tuchscherer nach Öffnung der Aktenarchive des DDR-Geheimdienstes. Trotz der belegten Aktenlage streitet Buse eine IM-Tätigkeit ab.
Bei der Vierschanzentournee 1976/77 erstmals für Österreich am Start
"Es ist der absolute Wahnsinn, wie das damals abgelaufen ist", sagte Tuchscherer im Rückblick auf seine erste Vierschanzentournee in seinem neuen österreichischen Team am Jahreswechsel 1976/77. Die DDR-Funktionäre versuchten mit aller Macht, seinen Start beim Weltskiverband (FIS) zu verhindern. Das misslang, Tuchscherer setzte ein Zeichen, zumal er es schaffte, sich innerhalb von zehn Monaten vom DDR-Kombinierer zum Spezialspringer für das bereits gut besetzte Vierschanzentournee-Team Österreichs zu qualifizieren. "Ich wollte in Freiheit meinen Sport machen und zeigen, dass man auch ohne den politisch brutal instrumentalisierten DDR-Leistungssport samt Doping gut springen kann."
Doch der langjährige DDR-Sportchef Manfred Ewald wollte Tuchscherer unter Zusicherung von Straffreiheit zur Rückkehr bewegen. Die SED-Apparatschiks bedrängten Tuchscherers Vater Gottfried, er solle auf seinen Sohn per Telefon einwirken. "Mein Vater ist mehrfach nervlich zusammengebrochen", sagt Tuchscherer. Das veranlasste ihn Wochen später zu einer riskanten Reise. Mit seiner Freundin kam er unter "vorheriger Zusage für freies Geleit" in die DDR zurück. "Im schlimmsten Fall wäre ich im Stasi-Knast gelandet. Aber ich wollte meinen Eltern unbedingt die Gründe für die Flucht darlegen und ihnen ihre Schwiegertochter vorstellen."
Dopingpillen vom DDR-Mannschaftsarzt Wuschech
Drei Wochen Frist räumten die DDR-Behörden dem jungen Liebespaar ein, um sich für eine Zukunft im Arbeiter- und Bauernstaat zu entscheiden. Für Tuchscherer war das keine Option. "Die ständige Bevormundung und Gängelung als Spitzensportler konnte ich nicht mehr ertragen", sagt er. Ein Eintritt in die allmächtige Staatspartei SED kam für ihn nicht in Frage. Zudem hatte er noch die Worte des damaligen DDR-Mannschaftsarztes Heinz Wuschech aus Berlin (verstorben im September 2020) im Ohr. Der hatte einst, so Tuchscherer, die blauen Dopingpillen Oral-Turinabol an ihn und seine Teamkameraden verteilt und gesagt, dass man einen Spitzensportler nur für maximal vier Jahre voll belasten könne. Dann sei der Organismus so verbraucht, dass er für Höchstleistungen nicht mehr tauge. Der Mediziner Wuschech hat 2019 die Dopingvergabe zu DDR-Zeiten in der ORF-Doku bestätigt.
Auch der DDR-Skisprung-Olympiasieger von 1976, Hans-Georg Aschenbach vom ASK Oberhof, der als DDR-Sportarzt im August 1988 bei einem Mattenspringen in Hinterzarten (Baden-Württemberg) flüchtete, kann sich noch daran erinnern, dass der Arzt Wuschech den Spitznamen "die Spritze" trug". "Da wurde mir klar, dass ich für die Bonzen nur ein Stück Material war", sagt Tuchscherer. Sein Entschluss, die Heimat zu verlassen, stand. Dabei war er klug genug, zu behaupten, dass sein Motiv nur die Liebe war – nicht die politischen Umstände. "Als wir dem zuständigen SED-Funktionär mitteilten, dass wir nach Österreich zurückkehren wollten, knallte er zwei Flugtickets von Berlin-Schönefeld nach Wien auf den Tisch. Verbunden mit der Forderung: ‚Morgen sind Sie beide weg.‘" Hilfreich war, dass Österreich unter dem damaligen Kanzler Bruno Kreisky zu den wenigen Ländern gehörte, die die DDR-Staatsbürgerschaft anerkannten und eine Verhaftung von Tuchscherer eine große Berichterstattungswelle im Westen ausgelöst hätte.
Österreich war und ist eine Skisprungnation. Deren Kombinierer gehörten damals nicht zur Weltspitze. Deshalb wechselte Tuchscherer zu den Spezialspringern. Dort qualifizierte er sich schnell für das Team mit Karl Schnabl und Toni Innauer. Im Gegensatz zu seiner Zeit als privilegierter Staatsamateur in der DDR, ging Tuchscherer während der wettkampflosen Zeit einer Arbeit nach. In der Anfangszeit habe ihm vor allem Österreichs Erfolgstrainer Baldur Preiml geholfen, erinnert sich Tuchscherer. "Er ist mit uns Athleten sehr respektvoll und fair umgegangen, hat uns Eigenverantwortung übertragen und große Freiheiten gelassen, was für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig war. Es wurde niemand gezwungen, Trainingspläne zu befolgen. Das kannte ich aus der DDR nicht." Und Preiml (85) selbst meinte: "Der Claus war ein schneidiger Bursche, ein ziviler Ungehorsam und eine große Bereicherung für unser Team." Auch der österreichische Skisprung-Olympiasieger Toni Innauer (66) und einstige Teamkamerad von Tuchscherer zollt ihm bis heute höchsten Respekt. "Wie schwer es einem jungen Menschen wie dem Claus damals gefallen ist, seine Heimat zu verlassen, er aber wegen der politischen Zustände im DDR-Regime, dies konsequent durchgezogen hat, verdient absoluten Respekt." Mit Innauer, der bis 2023 als Skisprung-Experte für das ZDF unterwegs war, ist Tuchscherer bis heute gut befreundet.
Auch innerhalb des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV) grassierten damals Stasi-Gerüchte, der geflüchtete Tuchscherer wolle im Auftrag der DDR die Trainingsmethoden der Austria-Adler ausspionieren, was ein großer Blödsinn war, wie auch die Stasiakten und die darin belegte umfasssende Überwachung von Tuchscherer belegen.
Trotz der heftigen, nervenaufreibenden Störattacken, konnte Tuchscherer bei seiner ersten Tournee 1976/77 den 18. Platz in der Gesamtwertung erringen. Im Abschlussspringen in Bischofshofen schaffte er es mit dem 5. Platz zum ersten Mal in die Top Ten. Seine früheren DDR-Kameraden ignorierten Tuchscherer und verweigerten ihm bei der Siegerehrung den Handschlag.
Hat die Stasi bei der Ski-Bindung manipuliert ?
Bei der nordischen Ski-WM 1978 in Finnland war Tuchscherer für seine ehemaligen DDR-Kollegen ein ernstzunehmender Konkurrent. Beim ersten Wettkampfsprung dann die Sache mit dem Ski. Bis heute sei es ihm völlig rätselhaft, wie das passieren konnte, sagt er. Oben auf dem Anlaufturm, da ist er sich ganz sicher, hatte er "die Bindung noch kontrolliert". Hatte jemand, womöglich sogar die Stasi, nachgeholfen und die Bindung manipuliert? Dafür spricht für Tuchscherer: Die Räume, in denen die Skier abgestellt waren, waren nicht abgeschlossen, der Zugang leicht und unkompliziert. "Natürlich kann ich es nicht beweisen", sagt er. "Aber vielleicht hatte die Stasi ja doch etwas damit zu tun. Nach allem, was man heute weiß, traue ich es ihr auf alle Fälle zu." Damit spielt er auch auf Lutz Eigendorf vom ehemaligen Stasi-Club BFC Dynamo an. Der Ostberliner Fußballer, der 1979 in den Westen geflüchtet war, starb 1983 bei einem Autounfall. Einiges spricht dafür, dass ihn die Stasi ermordete.
Entschuldigt hat sich bei ihm niemand
Für den zweiten Sprung bei der WM in Lahti reparierte Tuchscherer die Skibindung notdürftig und trat trotz Schmerzen zum zweiten Versuch an. Die Zuschauer applaudierten und feierten ihn. Ein Trost war das nicht. "Die Chance auf den größten Erfolg meiner Karriere war dahin. Für die DDR wäre das doch eine große sportpolitische Niederlage gewesen, wenn ich für Österreich eine Medaille gewonnen hätte." Das Foto von seiner Stuntman-Einlage ging um die Welt, wurde in der Bundesrepublik das Sportfoto des Jahres 1978. Seine Skier ließ Tuchscherer bei späteren Wettkämpfen nie mehr aus den Augen. In der Saison 1978/79 kam er bei der Tournee auf den siebten Platz der Gesamtwertung. 1982 beendete er seine Karriere und arbeitete noch kurz als Trainer. Mit Anna gründete er eine Familie mit zwei Kindern. Mehr als drei Jahrzehnte arbeitete er bis zur Pensionierung 2019, als Angestellter in der Stadtverwaltung Innsbruck.
Auch heute lässt Tuchscherer die Rechtfertigung, man habe damals bei der Stasi mitmachen müssen, nicht gelten. "Man hätte Nein sagen können. Zumindest hätten diese Leute ihre Stasitätigkeit nach dem Mauerfall nicht noch jahrelang verschweigen sollen." Bis heute habe sich keiner der Stasi-Zuträger bei ihm entschuldigt, sagt er. Stattdessen werde er in Ostdeutschland öfters mit der Meinung konfrontiert, er habe "damals die DDR verraten". Immer wieder stelle er sich deshalb die Frage, weshalb "diese Menschen Jahrzehnte später noch immer den Denkmustern des Kalten Krieges verhaftet sind ?" Er kritisiert zudem, mehr als 35 Jahre nach dem Maurfall: "Eine Aufarbeitung des DDR-Wintersports in Sachsen hat es bis auf wenige Ausnahmen bis heute nicht gegeben." Bei Sportlertreffen des einstigen SC Dynamo Klingenthal, wo Tuchscherer mehrmals in den vergangenen Jahren vorbeischaute, "war dies kein Thema". Und ein ehemaliger Schulsportlehrer habe ihm im kleinen Heimatmuseum "Skitruhe" in Schönheide im Herbst 2024 in barschem Ton gesagt: "Über Doping und Stasi wird hier in der 'Skitruhe' nicht geredet."
Seine Flucht hat Tuchscherer nie bereut
Skispringen schaut Tuchscherer, der teils in Natters bei Innsbruck nahe der Bergisel-Schanze lebt, heute nur noch im Fernsehen. Mit Freude verfolgt er das Aufwachsen seiner Enkel. Ein Naturmensch mit großer Ausdauer ist er geblieben, geht oft in die Berge, fährt Rennrad und Mountainbike. Im Winter betreibt er gerne Langlauf und geht auf Skitouren. Kontakte auch zu einstigen Sportkameraden in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen pflegt er bis heute. Auch beim großen Springertreffen 2019 in Wildenthal war er dabei. In seiner alten erzgebirgischen Heimat in Schönheide ist Tuchscherer ohnehin oft, wo er dann gerne mit Langlaufskiern und im Sommer mit dem Rad unterwegs ist.
Gefreut hat es ihn, dass im Jahr 2019 der ORF-Redakteur Anton Oberndorfer auf ihn zukam, um den 60-minütigen Dokumentarfilm "Flucht und Verrat - Die Stasi-Akte Tuchscherer" zu dessen Sportlerleben zu produzieren. Oberndorfer sprach mit vielen Zeitzeugen, darunter Wehling, Buse, Wuschech, Innauer, Preiml und einigen mehr, die teils mit bemerkenswerten Statements aufwarteten. Tuchscherer sagt noch heute, seine Flucht habe er nie bereut: "Die Freiheit im Westen konnten Medaillen und eine Sportkarriere in der DDR nicht aufwiegen." Angesichts der aktuellen politischen Situation in Österreich mit dem Erstarken der dortigen FPÖ sowie der AfD und BSW in Deutschland", warnt Tuchscherer: "Wer sich für Politik nicht interessiert, mit dem wird Politik gemacht."