Vor Test gegen Österreich Nagelsmann wehrt sich und verrät wenig
Eine Entschuldigung bei den Fans und ein Rüffel für die Kritiker seiner Havertz-Taktik: Julian Nagelsmann geht nach dem Türkei-Dämpfer kämpferisch in die letzte EM-Prüfung des Jahres.
"Wir müssen uns den Flow erarbeiten und dürfen nicht in die Opferrolle kommen, dann wird sich das Blatt wieder wenden", sagte der Bundestrainer vor dem reizvollen Test-Länderspiel gegen Österreich in Wien am Dienstag (21.11.2023, 20.45 Uhr/ZDF und im Audio-Livestream und Liveticker bei sportschau.de). Umgehend und intensiv habe er den Fußball-Nationalspielern nach dem 2:3 gegen die Türkei in Berlin die Defizite per Videoanalyse vorgeführt. Dass deshalb Mats Hummels und Co. zu spät zu einem Fan-Termin kamen, täte ihm leid: "Ich habe es nicht gewusst, dass der Termin geplant war. Sorry, dass die Spieler deswegen zu spät gekommen sind."
Im ARD-Interview betonte Nagelsmann, dass es das Wichtigste sei, aus so einem Spiel wie gegen die Türkei die richtigen Schlüsse ziehen zu können. "Wir waren in allen Statistiken besser als der Gegner und haben trotzdem verloren. Das ist, was bei einem K.o.-Spiel oder einem Turnierspiel zählen würde. Bei einem Testspiel sage ich: Es ist ärgerlich, aber noch vertretbar." Man habe "vier oder fünf" Trainingseinheiten gehabt - für sichtbare Auswirkungen der Arbeit bedürfe "es einfach ein bisschen Zeit".
Großes Unverständnis für Kritik an Havertz-Rolle
Kein Pardon gab es vom Bundestrainer für die mediale Schelte wegen der Versetzung von Kai Havertz auf die Position des linken Außenverteidigers. Der Arsenal-Profi habe ein hervorragendes Spiel gemacht, sei objektiv nicht schuld an der Niederlage, meinte Nagelsmann und lieferte als Beleg mehrere statistische Werte. Überhaupt: Negativität, Pessimismus und "alles in Schutt und Asche zu legen", sei keine Art.
Das Österreich-Spiel ist die letzte Chance, doch noch mit einem halbwegs guten Gefühl ins Jahr der Heim-EM zu gehen. Danach folgen vier lange Monate Länderspielpause. Die können sehr zäh werden, wenn der Fußball-Nationalmannschaft der Makel einer weiteren Pleite beim kleinen Erzrivalen anhaftet. Der letzte Eindruck bleibt halt immer hängen. "Mich wurmt mehr die Pause an sich als die öffentliche Wahrnehmung", sagte Nagelsmann. Sein Team nimmt er dennoch in die Pflicht. "Es ist keiner gesetzt und jeder ist eingeladen, sein Bestes zu geben", wiederholte Nagelsmann einen Leitsatz. Die klare Botschaft: Nachlassen darf jetzt keiner.
Nagelsmann freut sich auf das Aufeinandertreffen mit Ralf Rangnick. Den Taktik-Wettkampf mit dem deutschen Trainer in Diensten Austrias, der ihn an vielen Karrierestationen begleitete, würde der 36-Jährige ganz sicher auch aus persönlichen Motiven gerne gewinnen.
Havertz-Rolle als EM-Option
Vor allem wartet aber Fußball-Deutschland nun auf Antworten des Bundestrainers. Die Dauer-Symptomatik der missratenen Flick-Zeit war gegen die Türkei wieder zutage getreten. Vorne mit den Chancen schlampig und hinten tendenziell konfus. Welche Lösungen bietet Nagelsmann also an gegen die derzeit ziemlich selbstbewussten Österreicher?
Verraten wurde auch kurz vor dem Abschlusstraining wenig bis nichts. Ob Kevin Trapp wieder im Tor den rückenkranken Marc-André ter Stegen vertritt oder einer der Neulinge Oliver Baumann und Janis Blaswich ran darf, ist noch die unwichtigste Komponente. Das Havertz-Experiment sei sogar eine EM-Option, hatte der Bundestrainer schon eine Kontinuität für diese Position angedeutet. In Wien angekommen, hielt er sich alle Optionen offen.
Hummels lobt Tah: "Top, überragend"
Doch funktioniert in diesem mutigen System auch Mats Hummels in der verbliebenen Dreierkette? Oder fällt der wieder zur Führungsfigur erkorene Routinier dann wegen seines Tempo-Defizits durch das Taktikraster? Bei der Pressekonferenz machten beide nebeneinander einen eingespielten, harmonischen Eindruck. Hummels jedenfalls ließ die Dauerkritik an der Abwehrkette der deutschen Elf nicht gelten. Vor allem Jonathan Tah lobte der Routinier ausdrücklich: "Die letzten 12, 13, 14 Spiele, die ich von Jona gesehen habe, waren nicht nur gut, sondern teilweise top oder überragend. Dazu ist er ein guter Junge - also: Loblied Ende."
Offen blieb, wen Nagelsmann genau meinte, als er von mangelnder Emotionalität bei einigen Spielern sprach. Julian Brandt hatte gegen die Türkei reichlich Argumente geliefert, angesprochen zu sein. Dessen Position könnte aber doch Havertz in Abwesenheit des verletzten Jamal Musiala eigentlich trefflich übernehmen.
Was passiert mit Kimmich?
Gretchenfrage bleibt aber ohnehin: Was tun mit Joshua Kimmich? Einige Komponenten sprechen für eine Rückversetzung auf die Position als rechter Außenverteidiger. Dort wäre eine Stabilitätslücke geschlossen, und im Sechser-Zentrum wäre neben Kapitän Ilkay Gündogan Platz für einen dringend notwendigen echten Balleroberer wie Pascal Groß. Das hatte in Amerika gegen die USA (3:1) und Mexiko (2:2), als Kimmich mit Fieber fehlte, vorzüglich funktioniert.
Österreich mit Rangnick im kleinen Fußball-Rausch
Leicht wird die Aufgabe in Wien nicht. Österreich ist mit Rangnick in einem kleinen Fußball-Rausch. "Die Österreicher haben eine richtig gute Mannschaft. Wenn man die ersten 11 oder auch 13, 14 durchgeht, da sind schon richtig gute Spieler dabei, die bei absoluten Top-Klubs Stammspieler sind in Europa", sagte Rudi Völler dem Bayerischen Rundfunk.
"Ich glaube, dass die uns nicht nur das Leben schwer machen werden in Wien, sondern auch eine gute EM spielen werden", prognostizierte Völler.
Österreich sehr selbstbewusst
An Selbstvertrauen für das Deutschland-Duell und die EM mangelt es dem Gegner nicht. "Wir sind nicht chancenlos, haben eine gute Quali gespielt, sind gut drauf und echt eine geile Mannschaft", sagte Christoph Baumgartner von RB Leipzig, einer von vielen Bundesliga-Profis im Austria-Kader. Und ein wenig Schmäh geht ohnehin immer. "Wir fahren nicht hierher, um nur dabei zu sein, wir wollen schon zeigen, was wir Skifahrer auch draufhaben."