FIFA WM 2022 WM-Protest gegen Iran-Regime - "Es gibt kein Zurück mehr"
Bei ihrem WM-Auftakt gegen England boykottierte Irans Nationalmannschaft das Mitsingen der Hymne. Iran-Experte Farid Ashrafian rechnet im Sportschau-Interview mit weiteren Protesten.
Es sorgte weltweit für Aufsehen: Als die Nationalhymne beim iranischen Auftaktspiel gegen England (2:6) durch das Khalifa International Stadium schallte, blieben die Münder der iranischen Nationalspieler geschlossen. Keiner sang mit.
Iranisches Fernsehen unterbricht WM-Übertragung
Ein Zeichen, das als Solidarisierung mit den iranischen Anti-Regime-Protesten gewertet wird. Das iranische Staatsfernsehen hatte deshalb die Live-Übertragung bei der Hymne unterbrochen. Seit die 22-jährige Mahsa Amini in Polizeigewahrsam gestorben ist, demonstrieren die Menschen in weiten Teilen des Irans, wollen die Regierung stürzen.
Die versucht, die Proteste gewaltsam zu unterdrücken. Mehr als 300 Menschen sollen dabei gestorben sein, viele wurden inhaftiert.
Iran-Experte Ashrafian: "Die perfekte Plattform"
Die iranische Nationalmannschaft nutzte die ganz große Bühne, um darauf aufmerksam zu machen. Das findet auch der Iran-Experte und Sportjournalist Farid Ashrafian. "Es war die perfekte Plattform für die Ausbreitung der Botschaft der iranischen Protestbewegung", sagte er im Gespräch mit sportschau.de.
"Ein kollektives Zeichen der Solidarität"
Das Schweigen war für Ashrafian alternativlos. "Den Nationalspielern blieb gar keine andere Möglichkeit, als irgendein kollektives Zeichen der Solidarität mit der eigenen Bevölkerung, die vom Mullah-Regime barbarisch unterdrückt wird, zu setzen", sagte er: "Dieses starke Statement des Nicht-Mitsingens der Nationalhmyne hat eine große Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf sich gezogen und wurde natürlich auch im Iran wahrgenommen."
Reaktion aus dem Iran: "Werden niemals zulassen, dass irgendjemand unsere Hymne beleidigt"
Dort gibt es bereits einzelne Stimmen, die nach Vergeltung für die Aktion rufen. Am Dienstag (22.11.2022) hatte Mehdi Chamran, Vorsitzender des Stadtrats von Teheran, verkündet: "Wir werden es niemals zulassen, dass irgendjemand unsere Hymne und unsere Flagge beleidigt. Die iranische Zivilisation ist so alt, wie die europäische und amerikanische vereint."
Forderung: Jugendteam soll Nationalmannschaft ersetzen
Außerdem hatte ein Parlamentsmitglied der Regierungspartei in Kurdistan gefordert, dass die Spieler vom Turnier abgezogen werden und von der "gläubigen und revolutionären Jugend" ersetzt werden sollen, die stolz darauf sei, die Hymne zu singen. Dass dies alleine aufgrund der FIFA-Regularien nicht möglich ist, schien ihn dabei wenig zu kümmern.
Harte Strafen auch gegen Sportler
Das Regime schreckt allerdings nicht vor harten Strafen gegenüber Prominenten zurück. Ganz aktuell wurde im Iran Fußballstar Voria Ghafouri wegen "antistaatlicher Propagaganda" nach einer Trainingseinheit seiner Mannschaft Foolad Khuzestan festgenommen.
Auch der ehemalige iranische National- und Bundesligaspieler Ali Karimi wurde unlängst wegen der öffentlichen Unterstützung der Proteste angeklagt. Seine Villa im Iran wurde laut Medienberichten verbarrikadiert.
Ashrafian rechnet nicht mit ernsthaften Sanktionen
Müssen sich die Nationalspieler wegen ihres Schweigens also Sorgen wegen möglicher Sanktionen oder sogar um ihre Familien machen? Nein, glaubt Ashrafian.
"Es war ein Akt, der nach außen zwar mutig aussah, aber für den letztlich nicht mit ernsthaften Reaktionen seitens des Mullah-Regimes zu rechnen ist", sagte er und konkretisierte: "Was den Spielern maximal drohen kann, ist, von der regimetreuen Presse negativ dargestellt zu werden. Sie werden Rügen bekommen, vielleicht wird ihr familiäres Umfeld belästigt. Aber es ist nicht damit zu rechnen, dass sie dafür ins Gefängnis kommen. Dafür müssten sie deutlicher in Erscheinung treten, etwa auf die Straße gehen und Parolen gegen das Regime skandieren."
Strafe für Frauen-Basketballteam?
Es könnte also glimpflich für das Nationalteam ausgehen - doch das ist nicht immer der Fall. Gerade erst ließ sich ein komplettes iranisches Frauenbasketballteam als Zeichen des Protests ohne Kopftücher ablichten. Die Trainerin stellte das Bild anschließend ins soziale Netzwerk Instagram.
Mittlerweile wurde es dort wieder entfernt. Das veröffentlichte Foto könnte den Spielerinnen gefährlich werden - weil sie Frauen sind. Und weil die Weltöffentlichkeit am Schicksal einer weiblichen Basketballmannschaft im Iran wohl nur wenig bis gar keinen Anteil nimmt - anders als bei der Fußball-WM.
Bekundung auch für Voria Ghafouri?
Doch wie geht es für die Fußballer weiter? Ashrafian rechnet mit weiteren Aktionen seitens der Mannschaft - nun auch für den inhaftierten Ghafouri. "Die iranische Gesellschaft erwartet, dass bereits im Spiel gegen Wales nicht nur ein Zeichen gesetzt wird, sondern die Mannschaft sich für Voria Ghafouri einsetzen wird. Etwa mit der Forderung: 'Der gehört nicht ins Gefängnis. Lasst ihn frei - oder wir treten nicht an'", sagte er.
"Keine Wahl, als weitere Zeichen zu setzen"
Und auch gegen die USA (29.11.2022, 20 Uhr) erwartet der Iran-Experte, dass die Mannschaft vor den Augen der Weltöffentlichkeit tätig werden wird. Denn die Solidarisierung mit der Protestbewegung sei nicht mehr zu stoppen.
"Die Nationalmannschaft hat keine Wahl, als weitere Zeichen zu setzen. Sonst schreitet nicht nur der Entfremdungsprozess mit der Mannschaft voran, sondern sie macht sich zunehmend unpopulär. Sie würde sich dann die eigene Bevölkerung zum Gegner machen", so Ashrafian.
Queiroz beschwert sich über politische Fragen
Carlos Queiroz, der portugiesische Trainer der iranischen Nationalmannschaft, versucht derweil, politische Fragen von seinen Spielern fernzuhalten. Nach einer Pressekonferenz stellte Queiroz kürzlich die BBC-Journalistin Shaimaa Khalil zur Rede, die zuvor einem Spieler eine Frage zu den Protesten im Iran gestellt hatte.
Quieroz fragte die Journalistin, warum sie nicht anderen Trainern politische Fragen stelle: "Warum stellt ihr uns andauernd solche Fragen? Warum fragt ihr nicht Southgate (Gareth Southgate, Nationaltrainer Englands, Anm. d. Red.), was er davon hält, dass England und die USA Afghanistan verlassen haben", sagte Queiroz, bevor er den Raum verließ, ohne eine Antwort abzuwarten.
"Es gibt kein Zurück für die Freiheitsbewegung"
Denn eines sei klar, so der Journalist: "Die revolutionäre Freiheitsbewegung im Iran hat ein Level erreicht, von dem aus es kein Zurück mehr gibt", sagte er und prognostizierte: "Es fällt schwer, einen Zeitpunkt zu benennen, aber langfristig wird das Regime keine Möglichkeit mehr haben, sich durchzusetzen." Dass es so kommt, dazu kann auch die iranische Nationalmannschaft ihren Teil beitragen. Und zwar auf der ganz großen Bühne der WM 2022 in Katar.