FIFA WM 2022 England steht trotz Elfer-Frust vor rosiger Zukunft
England scheitert gegen Frankreich wieder einmal frühzeitig und wieder einmal vom Punkt. Die Leistung des Teams und die Fülle an Talenten lassen aber auf einen Titel hoffen. Jetzt muss nur noch der Trainer die richtige Entscheidung treffen.
Kurz nach der Niederlage Englands im WM-Viertelfinale gegen Frankreich kam es zu einer Szene, bei der man gerne Mäuschen gespielt hätte. Trainer Gareth Southgate umarmte Harry Kane und flüsterte seinem Kapitän ein paar aufmunternde Worte ins Ohr. Southgate, der im Halbfinale der Heim-EM 1996 den entscheidenden Strafstoß verschossen hatte, tröstete Kane, der wenige Minuten zuvor einen Elfmeter in den katarischen Nachthimmel gejagt hatte. Beide Fehlschüsse bedeuteten das vorzeitige Aus bei einem großen Turnier.
"Wir haben total daran geglaubt, dass wir etwas Besonderes erreichen können bei dieser WM", fasste Kane seine Enttäuschung später zusammen. "Aber am Ende haben Kleinigkeiten entschieden." England und die Elfmeter...
England hat Frankreich am Rande einer Niederlage
Das Bittere daran: Die "Three Lions" hatten in den 90 Minuten zuvor eine wirklich ansprechende Leistung gezeigt und den großen Favoriten Frankreich lange sehr erfolgreich geärgert. Kyle Walker nahm Superstar Kylian Mbappé fast komplett aus dem Spiel, die englische Offensive um Kane, Phil Foden und Bukayo Saka war deutlich ideenreicher als die hochgelobte Angriffsreihe der Franzosen auf der Gegenseite.
England schoss öfter aufs Tor als Frankreich (15:8), England hatte mehr Ballkontakte als Frankreich (56 Prozent), England gewann mehr Zweikämpfe als Frankreich (53 Prozent). Da Kane aber eben nur einen von zwei Strafstößen verwandelte (54. Minute) und Frankreich zweimal eiskalt zuschlug, platzte der Traum vom WM-Titel erneut frühzeitig. Aurélien Tchouaméni traf mit einem Distanzschuss (17.), Olivier Giroud (78.) nach einer Flanke per Kopf. Schön herausgespielt war das nicht, letztlich aber eben erfolgreich. "Dieses Spiel wird uns lange wehtun", gab Kane zu. "Uns steht eine lange Zeit des Wartens bevor."
Bellingham, Saka und Co. gehört die Zukunft
Klar ist aber auch: Diese Zukunft, auch wenn sie frühestens in zwei Jahren bei der EM in Deutschland beginnt, könnte rosig sein. Das Potenzial der Mannschaft ist noch lange nicht ausgeschöpft, gegen Frankreich standen mit Kyle Walker (32) und Jordan Henderson (32) gerade einmal zwei Profis jenseits der 30 in der Startelf.
Leistungsträger wie Saka (21), Foden (22), Declan Rice (23), Mason Mount (23), Marcus Rashford (25) oder Jude Bellingham (19), der vielleicht größte Shootingstar der WM, haben noch jede Menge Entwicklungspotenzial und die Höhepunkte ihrer Karriere noch vor sich. "Dieses tolle junge englische Team hat alles gegeben und wird nur noch besser. Die Zeit wird kommen", prophezeite deshalb auch Gary Lineker.
Wenn jetzt auch noch Musiala dabei wäre
Die Tatsache, dass sich Jamal Musiala im vergangenen Jahr trotz zahlreicher Partien in englischen Junioren-Nationalteams für den DFB und gegen das Heimatland seiner Eltern entschied, ist angesichts der vorhandenen Qualität fast nur noch eine Randnotiz. Die englischen Verlierer von heute könnten die Gewinner von morgen sein. Und Musiala in die Röhre gucken.
Deutschland und Frankreich erlebten ähnliche Rückschläge
Mut sollte England nach dem Halbfinale 2018, dem Finale 2021 und dem Viertelfinale 2022 zudem machen, dass auch andere große Teams vor großen Triumphen erst mehrere große Enttäuschungen wegstecken mussten.
Deutschland, der Weltmeister von 2014, scheiterte 2006, 2010 und 2012 im Halbfinale, 2008 ging das EM-Finale gegen Spanien verloren. Frankreich, der Weltmeister von 2018, scheiterte 2012 und 2014 bereits im Viertelfinale, 2016 ging das EM-Finale im Stade de France gegen Portugal verloren. Die Parallelen sind unverkennbar. Rückschläge sind im Sport nicht selten der Anfang von Erfolgsgeschichten.
Was wird aus Trainer Southgate?
Bliebe die Frage nach dem Trainer. Southgate, der Fehlschütze von 1996, konnte seinem Team zwar die Phobie vor dem Elfmeterpunkt nicht austreiben. Auch im vergangenen Jahr stürzte das selbsternannte Mutterland des Fußballs bekanntlich nach dem Elfmeterschießen im Finale gegen Italien in ein Tal der Tränen. Southgate hat es aber geschafft, die zahlreichen talentierten Individualisten zu seinem Team zu formen.
Dass die Kritik in den sonst nicht gerade zimperlichen englischen Medien nach dem erneuten Scheitern sehr zurückhaltend ausfiel, ist ein Zeichen. Southgate ist der Richtige.
Der Vertrag des 52-Jährigen läuft noch bis Sommer 2024. Ob er ihn wirklich erfüllt, ließ der ehemalige Verteidiger aber offen. "Ich brauche Zeit, um korrekte Entscheidungen zu treffen. Wie auch immer die aussieht", bat Southgate um Verständnis und Geduld. "Es ist sehr emotional. So eine WM kostet so viel Energie."
Southgate sollte sich diese Zeit nehmen, dann aber bleiben. Die Reise der englischen Nationalelf ist noch lange nicht beendet.