FIFA WM 2022 Frankreichs Finaleinzug - Ein Meisterwerk von Didier Deschamps
Wer fehlte nicht alles bei Frankreich: Weltfußballer Karim Benzema, Superstar Paul Pogba, dazu Chefabräumer N'Golo Kanté und Christopher Nkunku auch noch. Nationaltrainer Didier Deschamps mischte neu und machte alles richtig: Der erneute Finaleinzug, am Sonntag (18.12.2022, 16 Uhr, live im Ersten und bei sportschau.de) gegen Argentinien, ist sein Meisterwerk.
Ganz bei sich zu bleiben, bei dem, was einen stark gemacht hat, das ist im Fußball sehr oft ein sehr guter Ratgeber. Marokkos Trainer hat im Halbfinale eine andere Idee gehabt. Seine Mannschaft hatte in diesem WM-Turnier Maßstäbe in Sachen defensiver Stabilität gesetzt, war nur durch ein einziges Eigentor bezwungen worden, obwohl die Gegner unter anderem Kroatien, Belgien, Spanien und Portugal hießen. Trotzdem änderte Walid Regragui gegen die Franzosen plötzlich seine Taktik, stellte auf Fünferkette um und signalisierte so dem Gegner übergroßen Respekt. Das wäre Deschamps nicht passiert.
Didier Deschamps
Nicht immer schöner Fußball
Deschamps ist ein Großmeister darin, das Optimum aus den Möglichkeiten seiner Spieler herauszuholen. Auch wenn das nicht immer schön aussieht, angesichts solcher Spektakelspieler wie Kylian Mbappé oder Ousmane Dembélé manchmal sogar ausgesprochen unschön. Frankreichs Fußball ist kein mitreißender Fußball, aber er ist extrem effektiv, zielgerichtet und erfolgreich. Deshalb kann Deschamps am Sonntag Fußballgeschichte schreiben: Erst einem Trainer vor ihm ist es gelungen, zweimal Weltmeister zu werden, das war der Italiener Vittorio Pozzo, 1934 und 1938. Deschamps hat 2018 in Russland triumphiert und den Titel zudem 1998 als Spieler gewonnen.
Seine Trainer-Bilanz ist herausragend. In 139 Länderspielen bringt er es auf einen Punkteschnitt von 2,13 pro Partie. Unter ihm kassierte Frankreich nur 122 Gegentore, bei drei Weltmeisterschaften verlor er bisher nur zwei Spiele: 2014 im Viertelfinale 0:1 gegen Deutschland und jetzt in Katar das dritte Gruppenspiel mit 0:1 gegen Tunesien, als das Weiterkommen aber bereits klar war. Da war Deschamps die Mannschaft wichtiger, er wollte Spieler mit Einsätzen belohnen, die sonst nur das Trainingsniveau hochhalten.
Vereint im Jubel: die französischen Spieler nach dem Treffer zum 2:0 gegen Marokko.
Viele Egos, aber ein Team
Auch durch solche Maßnahmen ist es ihm gelungen, dieses Team mit sehr vielen starken Egos zu einer Gemeinschaft zusammenzuschweißen. In der auch nach einer 1:0-Führung gegen Marokko alle weiter hochkonzentriert mitarbeiten statt persönlich glänzen zu wollen. In der ein Dembélé die Wege nach hinten macht und Olivier Giroud mit Antoine Griezmann vorne in Dauerschleife die Gegner anlaufen und den Spielaufbau stören. Und in der sich nach Spielende Ersatzspieler, Betreuer, Trainerstab und Stammspieler gegenseitig durch ein Spalier jagen, sich zwicken, leichte Schläge auf den Hinterkopf geben wie Kinder auf dem Schulhof. Auch das drückt den Teamgeist dieser früher mal so zerstrittenen Mannschaft aus.
Griezmann ist überhaupt ein gutes Beispiel für das geniale Coaching von Deschamps. Weil ihm die vorderste Linie mit Mbappé, Giroud und Dembélé gefährlicher erscheint, hat er den 100-Millionen-Spieler von Atlético Madrid bei Ballbesitz zum Zehner und gegen den Ball zum Achter umfunktioniert - mit großem Gewinn für "Les Bleus": Griezmann ist plötzlich Taktgeber, Stratege, Pressingauslöser und Tempobestimmer.
Frankreichs Nationalspieler laufen durch das Spalier der Teambetreuer.
Mit Tränen in den Augen
Dass er manchmal wie eine Maschine wirken kann, haben Deschamps seine Kritiker oft vorgehalten. Nach dem Halbfinale gegen Marokko sah man ihn aber mit Tränen in den Augen über den Rasen gehen, und er gab hinterher zu: "Vielleicht bin ich ein wenig emotional, aber vor allem bin ich stolz. Das war heute wieder ein sehr wichtiges und gewaltiges Match, jetzt kommt noch ein letztes. Seit einem Monat sind wir zusammen und rocken dieses Turnier gemeinsam, sowas ist nie einfach. Es war ein großes Glück bisher, meine Spieler belohnen sich. Jetzt streben wir natürlich den Titel an."
Stress oder Druck scheint er nicht zu spüren oder zumindest nicht an sich heranzulassen, dabei hilft ihm auch seine Vergangenheit: "Ich bin ja immer noch ein wenig Spieler, schätze und genieße jeden Moment am Tag. Es wird noch ein wenig Zeit brauchen, um das alles zu begreifen. Das steckt keiner so leicht weg. In vier Tagen geht es für uns wieder um den WM-Titel – das ist großartig."
Macron ordnet Vertragsverlängerung an
So großartig, dass gleich nach dem 2:0 gegen die Marokkaner das Thema Vertragsverlängerung zur Sprache kam - der jetzige Kontrakt läuft am Jahresende aus. Deschamps kann über seine Zukunft selbst entscheiden, anders sind die Worte seiner Vorgesetzten nicht zu verstehen: "Die Entscheidung liegt bei ihm, ich hoffe, er sagt ja", sagte der französische Verbandspräsident Noël Le Graët gleich nach Schlusspfiff im Interview des TV-Senders von "L'Équipe". "Einen Trainer mit dieser Qualität zu finden, ist nicht einfach.“
So sieht das auch der Staatspräsident persönlich. Emmanuel Macron ließ sich die Bühne des WM-Finaleinzugs natürlich nicht nehmen, besuchte die Spieler auch in der Kabine und sprach anschließend eine Art Machtwort: "Diese französische Mannschaft macht mich sehr stolz. Wir bringen den Pokal mit nach Hause - und natürlich muss Deschamps bleiben!" Man stelle sich vor, so etwas hätte sich Angela Merkel mal über Jogi Löw angemaßt.