FIFA WM 2022 Scaloni - Argentiniens Erfolgscoach vor Krönung im WM-Finale?
Argentinien steht bei der WM 2022 in Katar im Finale. Großen Anteil daran hat Trainer Lionel Scaloni. Der 44-Jährige wird in seiner Heimat verehrt und könnte im Endspiel gegen Frankreich Geschichte schreiben.
Lionel Scaloni stand fast regungslos am Spielfeldrand. Der Trainer der argentinischen Nationalmannschaft schaute ungläubig drein, fast flehentlich, doch es half nichts. Ebenso konsterniert war Lionel Messi. Er blickte mit Tränen in den Augen gen Himmel - doch auch der Beistand von oben blieb ihm und seinen Mitspielern versagt.
Nach aufreibeneden und dramatischen 90 Minuten schlichen die Argentinier vom Rasen des brodelnden Stadions in Lusail, die Saudi-Araber hingegen konnten ihr Glück kaum fassen. Die "Grünen Falken" hatten gerade eine der größten Sensationen dieser WM vollbracht und im ersten Vorrundenspiel der Gruppe C (22.11.2022) den großen Favoriten aus Argentinien mit 2:1 (0:1) geschlagen.
Für Coach Scaloni bedeutete die Pleite gegen Saudi-Arabien ein völlig ungewohntes Gefühl. Es war die erste Niederlage der "Seleccion" nach 36 ungeschlagenen Spielen seit der Copa America 2019, die Argentinien damals als Dritter abgeschlossen hatte. Seitdem war seine Mannschaft von Sieg zu Sieg geeilt, mit dem Triumph bei der Copa America 2021 als Höhepunkt.
Scaloni: "Bei der WM hast du keine Zeit, Fehler zu machen"
Doch Scaloni wäre nicht Scaloni, wenn er nicht sofort nach dem Spiel gegen Saudi-Arabien in den Analysemodus verfallen wäre und den Blick nach vorne gerichtet hätte. "Bei der WM hast du keine Zeit, Fehler zu machen. Wir werden zurückkommen und den Kopf oben behalten", sagte der 44-Jährige damals. "Wir denken so wie vor dem Spiel. So ist das bei der WM. Dieses Spiel ändert nichts an unserer Analyse und an unserer Vorbereitung auf die anderen Spiele."
Der 44-Jährige zeigte sich damals kämpferisch und gab die Parole aus: "Jetzt müssen wir zurückschlagen." Und das tat seine Mannschaft. Mit dem Rücken zur Wand folgten zwei 2:0-Siege gegen Mexiko und Polen. Letztlich zog die "Seleccion" dadurch als Gruppensieger ins Achtelfinale ein.
Epische Auseinandersetzung mit der Niederlande
Im Achtelfinale bestätigte Scalonis Mannschaft ihren Favoritenstatus gegen Australien und setzte sich mit 2:1 durch. In der Runde der besten acht kam es dann zu einer epischen Auseinandersetzung mit der Niederlande, in der Argentinien letztlich im Elfmeterschießen die Oberhand behielt.
Zwei Finalpleiten gegen Deutschland
Im Halbfinale folgte das bislang beste Spiel der Südamerikaner bei der WM 2022. Messi und Co. ließen den Kroaten beim 3:0 keine Chance und stehen zum fünften Mal im Endspiel.
Argentinien ist damit nach dem Fehlstart Scalonis Devise gefolgt, hat "den Kopf oben behalten" und ist in beeindruckender Manier zurückgekommen. Die "Seleccion" hat bewiesen, dass sie eine echte Turniermannschaft ist.
Das sieht auch Superstar Messi so - für den der Schock gegen Saudi-Arabien letztlich sogar die Sinne geschärft hat. "Es hat uns geholfen, stärker zu werden und als Mannschaft zu wachsen", sagte der 35-Jährige. "Jedes Spiel war seitdem ein Finale, wir haben also fünf Finals gespielt - und sie alle gewonnen."
Messi: "Wir wissen, was wir draufhaben"
Mit Blick auf das Endspiel (18.12.2022) gegen Titelverteidiger Frankreich sagte Messi: "Ich hoffe, dass wir das auch im Finale schaffen. Wir wissen, was wir draufhaben."
Zweimal konnte Argentinien die begehrte Trophäe gewinnen (1978 und 1986), zweimal verlor man das Finale gegen Deutschland (1990 und 2014).
Seit dem Copa-Sieg heißt Scaloni "La Scaloneta"
Der dritte Titel für die "Seleccion" wäre auch für Scaloni die Krönung. In Argentinien wird er spätestens seit dem Triumph bei der Copa America 2021 verehrt, damals das Ende von 28 titellosen Jahren. Seitdem wird er in seiner Heimat liebevoll "La Scaloneta" genannt, eine Koseform seines Nachnamens. Holt Scaloni mit seiner Mannschaft im Finale gegen Frankreich den WM-Pokal, würde er wohl vergöttert werden.
Für Scaloni wäre es der vorläufige Höhepunkt seines steilen Aufstiegs. Er wurde exakt 40 Tage vor Argentiniens erstem WM-Titel 1978 im 4.000-Seelen-Dorf Pujato, unweit Messis Heimat Rosario, geboren. Als Spieler zog es Scaloni schon 1998 nach Europa, wo er 17 Jahre lang sein Geld verdiente. Vor allem bei Deportivo La Coruna hinterließ er mit der spanischen Meisterschaft 2000 und dem Pokalsieg 2002 Spuren. Bereits damals war er Stimmungsführer in der Kabine.
Später spielte Scaloni in Italien (Lazio Rom, Atalanta Bergamo) und leihweise in England (West Ham United). Seine Laufbahn beendete der Mittelfeldspieler, der neben der argentinischen auch die spanische und die italienische Staatsbürgerschaft besitzt, 2015. Ein Jahr später startete er als Assistenzcoach des FC Sevilla seine zweite Karriere. Bereits als Spieler wurde Scaloni nachgesagt, er denke wie ein Trainer.
"Die 'Seleccion' ist für alle"
Zum Chefposten bei der "Seleccion" kam der auf Mallorca wohnende 44-Jährige, der im WM-Kader 2006 stand, dann aber "wie die Jungfrau zum Kinde". Ohne Meriten als Klubcoach stieg er vom Scout bei der Endrunde 2018 über die U20 hoch zur Interimslösung und ab November dann zum Cheftrainer auf. "Die 'Seleccion' ist für alle", lautet sein Credo, das er als U20-Weltmeister 1997 von Lehrmeister Jose Pekerman mit auf den Weg bekam.
Sein Fußball, das wird bei dieser WM sichtbar, beruht auf Flexibilität. Gerne wechselt Scaloni das System. In der Vorrunde spielte seine Mannschaft in einer 4-3-3-Grundordnung, gegen Kroatien begann sie im 4-4-2 und wechselte während der Partie in ein 5-3-2. Zudem ist der argentinische Coach dafür bekannt, viel rotieren zu lassen, was er beim aktuellen Turnier auch beweist.
Wenn dann noch Messis Glanz und Effizienz in der Offensive hinzukommen sowie die argentinischen Grundtugenden Disziplin, Ordnung und vor allem Hingabe aufs Parkett gebracht werden, dann ist das Paket komplett - genauso, wie Scaloni es sich vorstellt.
Scaloni: "Wir haben noch einen Schritt vor uns"
Nun steht das größte Spiel seiner zweiten Karriere an. "Es ist schwierig, das in Worte zu fassen. Davon habe ich als Argentinier immer geträumt", sagte Scaloni nach der Partie gegen Kroatien. Der Coach weiß, dass in der Heimat nichts mehr herbeigesehnt wird als der dritte WM-Titel. 36 Jahre Warten hätten ein Ende.
In diesem Bewusstsein stand Scaloni nach dem Kroatien-Spiel wieder am Spielfeldrand. Anders als gegen Saudi-Arabien diesmal freudestrahlend. Während man dem 44-Jährigen ansah, dass er gerade erst realisierte, was seine Mannschaft geleistet hatte, fiel ihm auch schon der an diesem Abend überragende Messi um den Hals. Auch beim sechsmaligen Weltfußballer war die Gemütslage jetzt eine völlig andere. Beide Protagonisten hatten Tränen in den Augen.
Ein wenig später war Scaloni dann schon wieder gefasst. Wie bereits nach dem misslungenen WM-Auftakt brauchte er nicht lange, um in den Vorbereitungsmodus auf das nächste Spiel zu schalten. "Es ist ein historischer Moment, den wir genießen müssen", sagte Scaloni, "aber wir haben noch einen Schritt vor uns". Wohl wissend, dass dieser der schwerste sein wird.