Von Arnold bis Musovic Qualitätssprung bei Torhüterinnen - "Entwicklung ist unglaublich"
Von Arnold bis Musovic: Die Torhüterinnen zählen bei der Frauen-WM zu den großen Gewinnerinnen. Die deutliche Leistungssteigerung "im Kasten" lässt sich mit Zahlen belegen. Vereine und Nationalteams investieren inzwischen mehr in die Ausbildung der Keeperinnen.
In den Momenten, als Welttorhüterin Mary Earps gebraucht wurde, war sie da. Bei der gesamten WM - und auch WM-Halbfinale gegen Australien am Mittwoch (16.08.2023). Erst verhinderte sie den Rückstand für ihr Team mit starker Fußabwehr (7.). Später, als England schon 2:1 führte, war sie erneut als Rückhalt ihres Teams zur Stelle und wehrte den Ausgleich ab (83./85.). Mit vier Glanzparaden hatte die Torfrau von Manchester United entscheidenden Anteil am 3:1-Finaleinzug der "Lionesses" - nur gegen ein Sensationstor von Australiens Sam Kerr war sie machtlos (63.).
Top-Keeperinnen: Earps, Arnold, Musovic
Earps ist bei der Frauen-WM in Australien und Neuseeland keine Ausnahme. Immer wieder entscheiden Torfrauen mit starken Paraden die Spiele. So, wie Australiens Mackenzie Arnold, die im Viertelfinale gegen Frankreich über sich hinauswuchs und im Elfmeterschießen drei französische Versuche entschärfte.
US-Torfrau Alyssa Naeher, Weltmeisterin von 2019, muss schon so eine Ahnung gehabt haben, als sie nach der Vorrunde sagte: "Ich habe dieses Jahr schon so viele großartige Paraden gesehen, von jeder Torfrau im Turnier." Im Achtelfinale verzweifelten Naehers US-Offensiv-Mitspielerinnen an Schwedens Torhüterin Zecira Musovic, die elf Torschüsse entschärfte.
Neunmal Torhüterin "Spielerin des Spiels"
In den bisherigen 62 WM-Partien wurden neunmal die Torhüterinnen zur "Spielerin des Spiels" gewählt, darunter Earps, Arnold und Musovic. Und, da ist sich die deutsche Nationalspielerin Ann-Katrin Berger sicher: Das ist kein Zufall. "Man sieht im Frauenfußball, die Torhüter werden viel, viel besser über die Jahre hinweg", sagt die 32-Jährige im "Sportschau"-Interview.
Earps entschärft 87,5 Prozent der Schüsse
Und das lässt sich auch mit Zahlen belegen. Earps entschärfte bei der WM 87,5 Prozent der Bälle auf ihren Kasten - mehr als Männer-Weltmeister und Welttorhüter 2022 Emiliano Martinez. Der Argentinier konnte in Katar nur 53,8 Prozent der Bälle auf seinen Kasten halten. Auch Frankreichs Vize-Weltmeister Hugo Lloris hat mit starken 83,3 Prozent bei der WM weniger Bälle abgewehrt als die Engländerin Earps in ihren bisher sechs Spielen in Australien.
Earps: "Diese WM ist fantastisch"
"Ich mag es, zu sehen, wenn Torhüterinnen ihre Sache gut machen", sagte Earps vor dem Halbfinale. "Ich habe wegen der Lautstärke in den Stadien nicht viel verstehen können, aber ich hoffe, die Leute bejubeln unsere Performance. Denn ich glaube, diese ist bei der WM fantastisch."
"Oranje-"Coach Jonker: "Eine ganze Generation"
Ein Beispiel, woran man die Verbesserung der Torhüterinnen sehen könnte, nannte Niederlande-Trainer Andries Jonker: "Vor vier Jahren gab es Torhüterinnen, die mit dem Ball unter der Latte nicht zurechtkamen. Und jetzt haben wir eine ganze Generation von sehr athletischen Torhüterinnen, die diese Art von Bällen nicht mehr zulassen", erklärte der 60-Jährige nach dem Achtelfinale seines Teams gegen Südafrika (2:0). "Oranje"-Keeperin Daphne van Domselaar gehöre "zu dieser neuen Generation. Sie sind athletisch, sie sind gut in Form, sie haben ein gutes Stellungsspiel", erläuterte Jonker. "Die Entwicklung in diesem Bereich ist unglaublich."
Mehr Bälle werden per Hand abgewehrt
Eine Verbesserung in den Leistungen der Torhüterinnen sieht auch Nadine Angerer, mit Deutschland Weltmeisterin 2003 und 2007. Für den Weltverband FIFA hat Angerer WM-Daten der Vorrunde analysiert und berichtet auf der FIFA-Website: "Die Anzahl der per Hand abgewehrten Schüsse ist von 74 Prozent bei der WM 2019 auf 78 Prozent bei der WM 2023 gestiegen." Bei der WM 2015 wurden gar nur 65 Prozent der Torschüsse per Hand gehalten. Gleichzeitig habe sich aber auch das Niveau der Torschüsse verändert.
Torhüterinnen haben weniger Zeit
Denn, so Angerer: "Es finden mehr Torabschlüsse im Strafraum statt. Die Torhüterinnen haben also weniger Zeit zu reagieren." Der frühere Schweizer Nationalspieler Pascal Zuberbühler, der mittlerweile für die FIFA arbeitet, resümiert: "Nachdem ich schon viele Turniere beobachtet habe, kann ich eindeutig eine Verbesserung der Qualität, aber auch der Vielfalt der Paraden feststellen."
Zuberbühler: "Sehen mehr Kontrolle"
Neben der von Jonker attestierten besseren Athletik hat Zuberbühler auch eine verbesserte Technik beobachtet: "Wir sehen mehr Kontrolle und ein besseres Stellungsspiel. In diesem Turnier beherrschen die Torhüterinnen wirklich die grundlegenden Techniken und Fähigkeiten, um die schnellen Aktionen auszuführen, die diese Position erfordert", so der 51-fache Schweizer Nationalspieler.
Datenanalyse: Teilweise deutliche Steigerung
Eine Datenanalyse, die die Consulting-Firma CreateFootball im Auftrag der "Sportschau" erstellt hat, unterstreicht diese Einschätzung. Beeindruckend die Daten zum Stellungsspiel in den bisherigen WM-Partien: Durch verbesserte Antizipation des Spiels standen die Torhüterinnen bei 87 Prozent der Torschüsse in optimaler Abwehr-Position. Das ist immens wichtig, um einen Ball überhaupt parieren zu können. Und das ist eine deutliche Steigerung im Vergleich zur WM 2019 (71 Prozent).
Auch das Timing bei hohen Bällen hat sich verbessert: Bei den Teams der K.o.-Runde konnten die Torhüterinnen 82 Prozent der Flanken vor das Tor abfangen, das sind vier Prozent mehr als noch 2019. Zudem werfen die Torfrauen präziser und weiter ab, 97 Prozent der Abwürfe vom Tor kommen bei der Mitspielerin an (2019: 93 Prozent).
Mehr "Zu-null-Spiele"
Ein weiterer Ausdruck für die gestiegene Qualität der Torhüterinnen sind die Spiele ohne Gegentor. In den 56 Spielen bis zum Achtelfinale stand 51 Mal zumindest auf einer Seite die "Null" - das war ein Anstieg von 33 Prozent im Vergleich zu 2019. Bis zu den Halbfinals stieg die Zahl der "Zu-null-Spiele" auf 53 in 62 Matches (zum Vergleich: 2019 waren es bis zum Semifinale 31 von 50 Spielen).
LeBlanc: Training mit dem Zeugwart
Und das hat auch einen Grund. Vereine und Nationalmannschaften investieren mehr in die Ausbildung der Torhüterinnen. Anders als früher. "Ich war in meiner Karriere einmal in einem Klub, in dem der Zeugwart einfach noch zusätzlich das Training der Torhüterinnen übernehmen sollte", erzählte etwa Karina LeBlanc, die zwischen 1999 und 2015 mit Kanada fünf Weltmeisterschaften spielte, dem US-Sender Fox Sports. "Mittlerweile wird in diese Position extra investiert, es gibt spezielle Trainingsprogramme, hier in Amerika und auch drüben in Europa. Sogar die FIFA hat ein spezielles Torhüterinnen-Analyseprogramm."
Berger: "Haben eigene Trainer"
Davon profitiert auch Ann-Katrin Berger in England. In kaum einer Liga und in kaum einem anderen Klub wie bei ihrem FC Chelsea wird so viel Geld in die Hand genommen, um die Torhüterinnen auszubilden. "Die Leistungsverbesserung liegt daran, dass wir beispielsweise als Torhüterinnen regelmäßig Trainer bekommen. Wenn man einen der besten Torwarttrainer hat, kommt man weit. Das ist ein Grundbaustein."
Frauen müssen Größennachteile ausgleichen
Im Training werden dabei andere Akzente gesetzt als bei den Männern. Weil Torhüterinnen wie Earps mit 1,73 Metern Körpergröße und selbst Berger oder Arnold mit 1,80 Meter Körpergröße kleiner sind als ihre männlichen Positionskollegen, müsse anders trainiert werden. Denn, wo Argentiniens Martinez oder Deutschlands Manuel Neuer mit ihren 1,93 Metern locker mit dem langen Arm hinkommen, müssen sich Earps und Co. deutlich strecken. Und das wird dann auch speziell trainiert: mehr Sprungkraft, mehr Strafraumbeherrschung, mehr technisch-taktisches Spielverständnis.
WM-Hüterinnen haben bessere Quote als WM-Hüter
In der kommenden Saison wird Ann-Katrin Berger sich wieder mit Zecira Musovic vergleichen lassen müssen. Die Schwedin ist mittlerweile einer der WM-Stars auf der Keeper-Position. In ihrer Heimat Schweden hat sie erst Anfang August ein Kinderbuch mit dem Titel: "Träume groß, Zecira" veröffentlicht. Groß träumen möchte sie auch in London und aus der Reservistenrolle treten.
Musovic hatte bei der WM anders als Berger, die ohne Einsatz blieb, ihren Anteil daran, dass sich aus Sicht der Torfrauen auch ein Vergleich mit den Männern der Zunft lohnt. Musovic und Co. entschärften bei der WM 2023 bisher 69,5 Prozent der Torschüsse (357 von 514 Bällen). Damit sind sie prozentual besser als die Männer bei der WM 2022, die "nur" 65,1 Prozent hielten (327 von 502 Schüssen).